Ganz zum Schluss erfahren die Zuhörerinnen und Zuhörer im Münchner Residenztheater, dass der Philosoph Omri Boehm am allerliebsten über etwas ganz anderes zu ganz anderen Personen gesprochen hätte: „Manchmal“, sagt Boehm, „denke ich, dass ich einfach nur meine Studenten über Spinoza unterrichten sollte.“ Die Auseinandersetzung mit dem niederländischen Philosophen aus dem 17. Jahrhundert bringe sehr viel Spaß und gehe häufig tiefer als die Themen Nahost, Krieg und universelle Menschenrechte, die er regelmäßig in Zeitungen und auf Bühnen bespricht. „Aber ich spüre auch eine Verantwortung, über gewisse Dinge zu schreiben und zu reden, weil es eine Lücke im Diskurs gibt, die ich füllen möchte.“
Omri Boehm, Enkel von Überlebenden des Holocausts und 1979 in Haifa geboren, ist einer der schärfsten Kritiker der amtierenden israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu. Dies führte zuletzt sogar dazu, dass die israelische Botschaft in Berlin eine Rede Boehms bei der offiziellen Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald verhinderte. Unter Druck lud ihn die Leitung der Gedenkstätte wieder aus.
Krieg in Nahost:Merz, Macron und Starmer rufen Iran zu Verhandlungen auf
Iran müsse „alle Bedenken zu seinem Atomprogramm“ ausräumen, heißt es in einer Erklärung des Kanzlers, des französischen Präsidenten und des britischen Premiers. Satellitenbilder zeigen die Atomanlage Fordo nach dem Angriff.
Und damit ist man eigentlich auch schon mittendrin im Thema dieses Abends: Eine „undurchdringliche Diskurslage“ nähmen inzwischen viele Menschen beim Gespräch über „Deutsche, Juden und damit eben auch Israel“ wahr, sagt Sonja Zekri, Redakteurin im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, zu Beginn der zwölften Ausgabe der SZ-Diskussionsreihe „München redet“.
Doch Boehm, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, bemüht sich im Residenztheater, dieser komplizierten Diskurslage mit einer bemerkenswerten Klarheit und Stringenz zu begegnen. Er sagt zum Beispiel den Satz: „Dass wir in einer Welt leben, in der Kriegsverbrechen akzeptiert werden, zeigt, dass wir in einer Welt leben, die Nie wieder nicht verstanden hat.“

Exklusiv Befreiung des KZ Buchenwald:Das ist die Rede, die Omri Boehm nicht halten sollte
Warum das Gedenken keine lästige Pflicht der Gegenwart ist, sondern die Bedingung der Möglichkeit einer Zukunft. Zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald.
Die angebliche Schwierigkeit, dass Deutschland beim Umgang mit dem israelischen Vorgehen im Gazastreifen auch stets seine eigene Schuld für die Shoah zu beachten habe, ist für Boehm offenkundig gar keine Schwierigkeit. Denn: „Ein Staat ist bloß ein Staat.“ Wenn die Bundesregierung also heute wegen einer angeblichen Staatsräson israelische Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verurteile und Benjamin Netanjahu trotz eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs auf deutschem Boden nicht festnähme, dann übernehme sie aus Boehms Sicht keine Verantwortung für die eigene Geschichte.
Verantwortung gegenüber dem Völkerrecht statt bedingungsloser Unterstützung
Die wahre Lehre aus dem Holocaust, findet Boehm, muss für Deutschland wie den Rest der Welt die „Verantwortung gegenüber dem Völkerrecht“ sein – nicht die bedingungslose Unterstützung israelischer Kampfhandlungen.
Das Fundament für Boehms Thesen ist ein Konzept, nach dem er sein letztes Buch benannt hat: „Radikaler Universalimus“. Dieses Werk, ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, ist eine Art Generalabrechnung mit dem westlichen Konzept der Identitätspolitik, entfaltet aber besonders im Kontext des Nahostkonflikts seine ganze Stärke. Boehm argumentiert, dass Frieden nur dann möglich sei, wenn die Menschenrechte für alle, wirklich alle, gleichermaßen gelten.
Warum diese Maßgabe auch und gerade für einen jüdischen Staat sowie seine Verteidiger leitend sein sollte, erklärt Boehm am Montagabend so: „Eine Welt, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlaubt, erlaubt sie auch gegen Juden.“ Jüdische Menschen müssten sich selbstverständlich schützen und geschützt werden, sagt er, ihm sei die lange Geschichte der Verfolgung von Jüdinnen und Juden wahrlich bewusst. „Aber sie müssen sich mit Menschenrechten schützen – nicht ohne sie.“ In der Rede, die er in Buchenwald nicht halten durfte, hätte er gesagt: „Nie wieder ist nur in seiner universellen Form gültig.“
Der israelische Botschafter hat Boehm zuletzt „Antisemitismus von links“ vorgeworfen
Der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hat Omri Boehm zuletzt „Antisemitismus von links“ vorgeworfen. Auf der Bühne sagt Boehm zwar, dass man diese Kritik eines Mannes, der die Linie der in Teilen rechtsextremen israelischen Regierung vertrete, getrost ignorieren könne. Auf eine der Aussagen, die Prosor in einem Gastbeitrag in der FAZ so scharf kritisiert hatte, geht er dann aber doch ein: Boehm hatte die israelische Gedenkstätte Yad Vashem einst als „Waschmaschine“ bezeichnet. Und das zurecht, wie er selbst noch immer findet, angesichts der Besuche von etwa Geert Wilders oder Viktor Orbán: „Antisemiten werden in Yad Vashem reingewaschen“, sagt er und wagt eine Prognose: „Bald wird die AfD durch Yad Vashem marschieren.“
Zugegeben, besonders zuversichtlich macht dieser Abend im Residenztheater nicht. Denn so klug viele der Ausführungen Boehms daherkommen, derzeit scheinen seine Ideen für ein friedliches Miteinander leider tatsächlich das zu sein, wofür seine Kritiker sie seit jeher halten: Utopien. Wenige Tage nach dem Beginn eines Krieges zwischen Israel und Iran, von dem noch keiner weiß, wie lange er dauern wird und was seine Folgen sein werden, gilt das umso mehr.
Aber, immerhin, auch hierzu weiß Omri Boehm einen klugen Satz zu sagen: „Die Befreiung der iranischen Menschen sollte von den iranischen Menschen kommen.“